Santiago und zurück / Nachgedanken

Beim letzten Abendessen in Pucón bin ich traurig, dass meine Reise dem Ende entgegen geht. Ich freue mich auf meine Familie, meine Freunde und auf meine Kollegen. Ich bin traurig, dass die Reise endet.

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Pucón verabschiedet uns mit Abendrot.

Das nahende Ende meiner Reise ist ein passender Moment um zurückzuschauen. Ich erinnere mich daran, wie ich Mitte September auf der Plaza de Armas in Santiago stand und erstaunt war, dass ich tatsächlich in Chile war. Mich überkam ein plötzliches Freiheitsgefühl. Ich hatte ursprünglich kaum daran geglaubt, diese Auszeit machen zu können. Auf diesem Platz wurde mir klar, wie einfach es gewesen war, nachdem ich mich klar entschieden hatte, eine Auszeit zu machen und nach Chile zu reisen. Als hätten sich die Dinge fast von selbst ergeben, nachdem ich den Wunsch laut ausgesprochen hatte. Welche Freiheit darin liegt, sich für etwas zu entscheiden und es umzusetzen. Unsere Lebenswege, Berufe, Wohnorte, Freunde, Hobbies, Lebensarten sind selbstgewählt. Wir können sie ändern. Besonders in unserem Teil der Welt. Nutzen wir diese Freiheit. Selbstverständlich wird nicht alles sofort gelingen, was wir uns vornehmen, und es gibt viel, das nicht in unserer Kontrolle liegt. Es ändert den Blickwinkel, die vielfältige Wahl, die wir haben, wahrzunehmen.

Von Pucón nach Santiago fahren wir über Nacht mit dem Bus. Leider schlafen wir dieses Mal beide nicht gut im Bus. An unserem letzten Tag in Chile bin ich ziemlich übernächtigt und stehe etwas neben mir. Es ist ungewohnt und nicht besonders schön, in einer großen, vollen, versmogten Stadt unterwegs zu sein. Ich freue mich auf die Rückkehr nach Berlin.

Wir besuchen das unterirdische Kulturzentrum La Moneda. Dort findet momentan eine Ausstellung von Samurai-Rüstungen statt. Wir würden auch gern den Palacio La Moneda besuchen. Wieder steht ein Polizist davor, der uns erklärt, dass heute leider geschlossen sei.

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Der Palacio La Moneda mit dem Kulturzentrum davor.
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Samurai-Rüstung

Nachmittags gehen wir ins Museo Chileno de Arte Precolumbino und schauen uns beeindruckende Erzeugnisse früherer Völker in Süd- und Mittelamerika an. Ich bin zu müde, um mir Details zu merken, versichere aber, dass das Museum einen Besuch lohnt.

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Tongefäße
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Diese alte Tonkatze hat es mir angetan. Ist sie nicht wunderbar?
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Ausschnitt eines Quipus. Damit haben die Inkas ihre Buchhaltung gemacht. Typ, Position und Anzahl der Knoten auf den verschiedenen Leveln von Schnüren kodieren die Informationen. Mein Mathematikerherz freut sich über die frühe Datenstruktur.

Ich habe auf dieser Reise viele Menschen getroffen, die längere Zeit unterwegs sind, beispielsweise für ein halbes Jahr oder ein Jahr. Viele haben ihren Job gekündigt und antworten auf die Frage, wo sie leben, dass sie es noch nicht wüssten. Ihre Sachen sind eingelagert, in Brüssel, Australien, Bermuda oder Südafrika. Sie entscheiden sich später vielleicht, wieder irgendwo zu wohnen. Manche tragen in die Bücher der Hostels unter Beruf „Traveller“ ein. Mich wundern diese Menschen. Ich kann mir Reisen als Lebensstil nicht gut vorstellen. Es macht Spaß zu reisen, ist nie langweilig und es ist interessant. Aber für mich gilt, dass Reisen keinen Sinn schafft. Reisen beschäftigt den ganzen Tag. Man könnte naiv denken, dass Reisen interessante Gedanken anregt. Für mich ist das nicht so. Das Wesentliche beim Reisen passiert im Außen. Ich denke unterwegs genauso viel oder wenig wie zu Hause. Reisen kann Abstand zum eigenen Lebenskonzept schaffen und den Blick für Alternativen öffnen. Das eigene Leben wird in der Ferne aber auch zu etwas, nach dem man sich sehnen kann.

Dass Reisen für mich kein Lebenskonzept ist, hängt damit zusammen, dass ich auf der Reise die passende Erfahrung zu der vielzitierten Lottogewinnerstudie gemacht habe. In der Studie wird untersucht, wie das Lebensglück von Menschen beeinflusst wird, wenn sie eine Million Dollar im Lotto gewinnen. Das Ergebnis ist, dass ihr Lebensglück nur kurzfristig positiv beeinflusst wird. Nach 6 Monaten sind sie ganz die alten. Wenn sie vorher frustiert und griesgrämig waren und immer das Haar in der Suppe finden, dann sind sie nach 6 Monaten frustrierte, miesgelaunte Millionäre. Wenn sie vor dem Gewinn optimistisch waren, dann sind sie später eben Optimisten mit einer Million Dollar. (Ich mache mir jetzt nicht die Mühe, die Studie herauszusuchen, das schafft ihr selbst, wenn es euch interessiert.) Äußere Umstände verändern einen in der Regel nicht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mir auf der Reise nicht grundsätzlich anders ging als sonst. Ich war zwar weniger gestresst, aber ich habe auch geglaubt, ich müsste viel erledigen, viel anschauen. Ich habe die meisten Tage genossen und mich manchmal über Kleinigkeiten geärgert. Ich habe mich auf der Reise besser kennengelernt. Beispielsweise bin ich weniger ängstlich, als ich dachte. Das Reisen hat sich für mich nach kurzer Zeit verstörend normal angefühlt und weniger aufregend als erwartet.

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Am Morgen vor dem Abflug sehen wir uns eine Ausstellung chinesischer zeitgenössischer Kunst an. Dieses Gemälde eines Farbklecks, das neben dem Original-Farbklecks hängt, gefällt mir.

Ich fand es erstaunlich und wunderbar, dass das Unterwegssein die Zeit so dehnt. Es waren gefühlt zwei sehr lange Monate. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt schon einmal längere zwei Monate erlebt habe. Auch die längsten zwei Monate gehen irgendwann zu Ende.

Berlin ist mir gleichzeitig fremd und vertraut. Als ich zu Hause in unserer Küche stehe und Kaffee kochen will, habe ich vergessen, wo der Kaffeenachschub liegt. Ich stehe in der Küche und frage mich: Wo würde ich den Kaffee aufbewahren, wenn ich hier wohnen würde?

3 Gedanken zu “Santiago und zurück / Nachgedanken

  1. Sehr kluge Gedanken, die ich mir auch durch den Kopf gehen lassen werde.
    Danke, dass ich an deiner Reise teilnehmen durfte.
    Ich sitze gerade bei Starbucks in Sydney und bin mehr als nervös, weil ich in weniger als 5 h meine Reisegruppe kennen lerne.
    Ob sie nett sind und ich Freunde finde?
    Ich weiß es nicht, aber ne Menge zu sehen, gibt es auf jeden Fall.

    Gefällt 1 Person

    1. Good to hear from you! How do you feel about going home?

      The entries from 13 to 22 October contain pictures from Patagonia. I’m afraid that there won’t come more since I’m back to work. Is there anything specific that you’re looking for?

      I have to catch up with your trip on your blog..

      Like

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